R. Murray Schafer

Murray Schafer

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Sabine Breitsameter

Schafer prägte die Begriffe Soundscape sowie Akustische Ökologie und gilt seit den 1960er Jahren als Pionier bei der Erforschung akustischer Umwelten. Sein Ziel: die klingende Umgebung zu verbessern und die Lebensqualität ihrer Bewohner zu steigern.

R. Murray Schafer ist Komponist, Hörforscher und –pädagoge, Schriftsteller und Maler. Er wurde 1933 in Sarnia in der kanadischen Provinz Ontario geboren. Seine akademische Ausbildung begann er 1952. An der Universität Toronto und am dortigen Konservatorium studierte er Klavier, Harfe, Komposition und Musikwissenschaft. Seine Kontakte mit dem damals noch unbekannten kanadischen Medienwissenschaftler Marshall McLuhan inspirierten ihn nachhaltig.

Murray Schafer

Leben

R.Murray Schafer, Ö1 Zeit-Ton, 3.3.2011, Gestalterin: Susanna Niedermayr

1956 begann Schafer ein Musikstudium in Wien. Er bereiste danach Europa und den Orient. Anfang der 1960er Jahre kehrte Schafer nach Kanada zurück und arbeitete dort als Musikpädagoge an Schulen und Hochschulen. Er entwickelte seine neuartige, interdisziplinäre Lehre von der Akustischen Ökologie, die er in Büchern zu veröffentlichen begann. Etwa zur selben Zeit trat er mit eigenen Kompositionen, insbesondere Werken für Musiktheater, hervor. 1965 wurde Schafer als Professor an die Simon-Fraser-Universität bei Vancouver berufen. Dort baute er das Department Akustische Kommunikation auf und formulierte seine Inhalte zur Akustischen Ökologie weiter aus. Er gründete das World Soundscape Project. 1975 zog sich Schafer aus der akademischen Arbeit zurück. 1977 erschien in Nordamerika sein Buch „The Tuning of the World“. Darin untersuchte er den historischen Wandel von akustischen Umwelten und die Auswirkungen auf den Stellenwert des Hörens in den jeweiligen Epochen und Gesellschaften. Dieses Buch wurde zum Ausgangspunkt der weltweiten Soundscape-Bewegung. Für sein kompositorisches Werk erhielt Schafer zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Auf seiner Farm in der Nähe von Peterborough/Ontario widmet er sich bis heute dem Komponieren, Schreiben und der Bildenden Kunst.

Hörpädagoge

 Viele Menschen sagen: „Schafer hat mir die Ohren geöffnet“, darunter so bekannte Persönlichkeiten wie die Komponistin Hildegard Westerkamp. Ende der 1960er Jahre entwickelte Murray Schafer seine hörpädagogische Methode des „Ear Cleaning“. Dieses „Ohrensäubern“ geschieht durch eine Reihe von Übungen, bei denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Hörerfahrungen in Kontakt kommen, die in der Routine des Alltags üblicherweise untergehen. In seinen Ear-Cleaning-Übungen lenkt Schafer die Aufmerksamkeit beispielsweise auf die Vielfalt der Geräusch„farben“ und -qualitäten, auf feine und ferne Laute, auf Pausen, Stille und die vielfältigen Erscheinungsformen von Lärm. Etwa so:

  • Welches ist in diesem Moment das am weitesten entfernte Geräusch, das du vernimmst? Welches das nächste?
  • Welche Laute werden von natürlichen, welche von technischen Quellen erzeugt, welche von Menschen?
  • Höre so lange auf das Geräusch eines Flugzeugs am Himmel, bis es völlig verklungen ist. Wie lange braucht das?
  • Keine zwei Orte klingen gleich. Welche Laute geben deinem Heimatort seine Eigenart und unterscheiden ihn von anderen Orten?

Wer auf diese Weise seine hörende Aufmerksamkeit verfeinert, dem fällt es leichter, sich die zu fragen, welche Laute gut tun, schön sind und welche Laute stören oder gar unangenehm wirken.

Cover Ear Cleaning

Nachlesen kann man dieser Übungen u.a. in:R. Murray Schafer,  Anstiftung zum Hören – Hundert Übungen zum Hören und Klänge Machen, deutsche Übersetzung hrsg. von Justin Winkler, Aarau: Nepomuk 2002.R. Murray Schafer,  Ear Cleaning : Notes for an Experimental Music Course. Don Mills, Ontario: BMI Canada 1967.

Princess of the Stars R. Murray Schafer, Banff Festival of the Arts, 1985. Performed in Two Jack Lake, near Banff, August 8-10, at dawn for the Banff Festival of the Arts

Kompositionen

R.Murray Schafer, Ö1 Zeit-Ton, 3.3.2011, Gestalterin: Susanna Niedermayr

Schafer Kompositionen umfassen Musiktheater-Arbeiten (Requiem for a Party Girl, 1966), Orchester-Werke (The Garden of the Heart, 1980), und Landschaftskompositionen (Music for a Wilderness Lake, 1979). Besonders oft aufgeführt werden seine mehrfach preisgekrönten bislang sieben Streichquartette, von denen das String Quartet No. 2 (Waves, 1976) das wahrscheinlich bekannteste ist. Sein multimedialer Musiktheater-Werkzyklus „Patria“ ist seit Anfang der 1970er Jahre ein „work in progress“. Er beinhaltet Opern und musikalische Szenen, die Themen der griechischen und ägyptischen Mythologie verarbeiten. Erstaunlich ist, dass Murray Schafer nur eine Komposition geschaffen hat, die mit Tonaufnahmen von Alltag und Natur arbeitet: 1996 schuf er mit dem kanadischen Komponisten Claude Schryer „A Winter Diary“ für den Westdeutschen Rundfunk Köln, das die vielfältigen Soundscapes des harten kanadischen Winters zum Inhalt hat. Das Stück erhielt 1997 der Karl-Sczuka-Preis des Südwestrundfunks.

Schafers Audiovision einer weltumspannenden Komposition

Während Schafers kompositorische Sprache von spätromantischen Tendenzen beeinfluss ist und insgesamt als gemäßigt modern gilt, sind seine Gedanken zu einer bewussten, hörenswürdigen und lebenswerten akustischen Umwelt vorwärtsgewandt und ausgesprochen „visionär“. Im Zentrum seiner Ideen für die Zukunft steht  ein „Akustik-Design“, das nicht einzelne isolierte Klänge gestalten möchte, sondern den Gesamtklang der Umwelt und dessen Zuträglichkeit für Individuum und Gesellschaft vor Ohren hat.

Das  aktuelle klangliche Erscheinungs„bild“ von Alltag und Welt, so Schafer, sei nichts anderes als eine umfassende, derzeit misstönende Komposition. Zu deren Verbesserung sollen nicht nur Komponisten, Stadtplaner und Sounddesigner beitragen, sondern jeder einzelne durch sein eigenes akustisches Verhalten.

Warum stresst Lärm?

Was veranlasst Menschen zur Kritik an ihrer misstönenden akustischen Umwelt? Was ist Lärm? Was ist Ruhe? Und welche Grundüberlegungen führen zu Strategien, die vielen Laute des Alltags weniger belastend und gleichzeitig ästhetisch interessanter zu gestalten? Der Beitrag gibt prototypische Praxisbeispiele.

Schafers Lehre von der Akustischen Ökologie I: Kritisches Hören auf die Umwelt

Die Akustische Ökologie beschreibt die akustischen Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt. Sie fragt nach den akustischen Erscheinungen von Alltag und Natur: Wie klingt eigentlich unsere Umwelt und wie hat sich ihr Klang im Lauf der Zeit verändert? Welche Faktoren tragen dazu bei, dass sie sich so anhört und nicht anders?Sie hakt kritisch nach: Warum lässt sich am diesem See im Wald dieses Frühjahr kein Insektenbrummen mehr vernehmen? Weshalb nisten in den Gehölzen entlang der neugebauten Autobahn so wenige Vögel?Die Akustische Ökologie untersucht aber nicht nur die Laute der natürlichen Umwelt. Sie fragt auch: Warum dominiert in unseren Städten das Brummen von Motoren? Wie kommt es, dass sich entlang großer Straßen die Geräusche so dicht miteinander verbinden, dass man dort kaum in normaler Lautstärke mit jemandem reden kann und man nicht einmal mehr die eigenen Schritte hört? Welche Auswirkungen haben diese akustischen Erscheinungen auf den Menschen, sein Wohlbefinden, seine Hörfähigkeit und seine Gesundheit?

Video: Soundwalk ~ Grand Central Terminal (New York City, 3/2/2011)

Soundwalk - Grand Central Terminal

Die vielleicht wichtigste Methode der Akustischen Ökologie, die Umwelt hörend zu erfassen, stellt der „Klangspaziergang“ dar, auf Englisch „Soundwalk“. Dabei bewegt sich eine Gruppe von SpaziergängerInnen schweigend und auf alles, was sie rundherum umgibt, lauschend durch ein vorher festgelegtes Areal. Auf das gemeinsame Hören folgt das gemeinsame Auswerten: Was alles haben die TeilnehmerInnen gehört? Was hat es bei Ihnen ausgelöst? Was hat ihnen missfallen und was hat sie fasziniert? – Das Video zeigt exemplarisch die akustischen, aber auch visuellen Eindrücke eines Soundwalks, den eine New Yorker Studentengruppe in der traditionsreichen Grand Central Station in Manhattan durchführte.

Schafers Lehre von der Akustischen Ökologie II: Die Beschaffenheit der Umwelt prägt das Hören

Schafers zentrale Aussage: Die akustische Beschaffenheit einer Umgebung prägt von Grund auf Einstellungen, Bereitschaft und Fähigkeiten ihrer Bewohner zum Hören. Dort, wo die meisten Menschen keine „Hörenswürdigkeiten“ erwarten, neigen sie dazu, ihre Ohren verschlossen zu halten. Denn was soll schon an Schönem oder Bedeutsamen reinkommen? Wo die akustische Umwelt ausgeblendet und ignoriert wird, tritt sie als etwas Veränderbares oder zu Gestaltendes gar nicht erst in Erscheinung. Auf dieser Grundlage lässt sich nur schwer eine Beziehung zu den akustischen Erscheinungen in Alltag, Natur und Kunst aufbauen. Das Gehör rückt so als Sinn in den Hintergrund. So entsteht der Eindruck, die Welt der Laute sei angeblich nicht so wichtig. 

Sabine Breitsameter

Sabine Breitsameter ist seit 2006 Professorin für Sound und Medienkultur am Fachbereich Media der Hochschule Darmstadt. Ihre Schwerpunkte sind elektroakustische Kunstformen, Hörkultur, audiomediale Produktionsästhetik, Medienökologie und Mediengeschichte. Zuvor war sie von 2004-2008 Gastprofessorin für Experimentelle Klanggestaltung an der Universität der Künste Berlin, wo sie den Master-Studiengang Sound Studies mitbegründete. Als Autorin, Regisseurin und Redakteurin war und ist sie v.a. für die Bereiche Hörspiel und Feature, Medienkunst, zeitgenössische Musik und aktuelle Kultur in der ARD tätig sowie für Deutschlandradio, dem US-amerikanischen NPR sowie Radio Canada. Als Wissenschaftliche und Künstlerische Leiterin kuratierte sie Symposien und Festivals wie u.a. Ganz Ohr. Symposium über das Zuhören (Kassel 1996, parallel zur Documenta), StadtStimmen (Landeshauptstadt Wiesbaden 1998), Trans Canada (ZKM Karlsruhe 2004), Radio_Copernicus. Das deutsch-polnische Künstlerradio (Berlin – Warschau – Wroclaw 2005), The Global Composition. Conference on Sound, Media and Ecology (Darmstadt 2012). 2010 erschien, von Breitsameter herausgegeben, übersetzt und eingeführt R. Murray Schafer „Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens“ bei Schott-International.
Sabine Breitsameter