Sound + Landscape = Soundscape

The Vancouver Soundscape - Cover

Ein Themenblock von: 

Sabine Breitsameter

Soundscape bezeichnet die Gesamtheit aller akustischen Ereignisse an einem bestimmten Ort. Eine Soundscape gibt Aufschluss über deren geographische Gegebenheiten sowie über das dort praktizierte Verhältnis von Mensch, Natur und Technik. 

Soundscape ist ein Wort, das Ende der 1960er Jahre im nordamerikanischen Sprachraum hervortrat. Es setzt sich aus landscape (= Landschaft) und sound (= Laut, Schall, Klang) zusammen. Auf Deutsch lässt sich das Wort am besten mit Klanglandschaft übersetzen. Der kanadische Komponist R. Murray Schafer griff das Wort auf und prägte es im Rahmen seiner Lehre von der Akustischen Ökologie: Soundscape bezeichnet die akustische Hülle, die den Menschen umgibt. Man versteht darunter die Gesamtheit der Laute eines Orts, einer Landschaft oder eines Raums. Auch im Zusammenhang mit einem virtuellen oder medialen Raum kann man von einer Soundscape sprechen.

Was zeigt eine Soundscape?

Ö1 Zeit-Ton, Gestalterin: Susanna Niedermayr. Murray Schafer erzählt, wie das Kunstwort Soundscape entstanden ist

Oft trägt die geographische Lage eines Orts zu seiner Soundscape bei, aber auch die Sprache der Einwohner, ihre Religion, ihre sozialen Strukturen, ihre Gebäude, Räume, Materialien und Verkehrswege. „Soundscape heißt: die Landschaft mit den Ohren sehen“, so brachte es Murray Schafer einmal auf den Punkt. Die Technologien einer Gesellschaft werden in einer Soundscape ebenso hörbar wie ihr Verhältnis zur Natur. Eine Soundscape kann hörbar machen, ob an einem bestimmten Ort etwa die Laute von Maschinen dominieren oder die Stimmen von Vögeln, die Aktivitäten von Menschen oder die Laute von Parks, Verkehrswegen oder Wasser. Aus der Mischung aller Laute in einer bestimmten Soundscape kann ein unverwechselbares klangliches „Erscheinungsbild“ erwachsen, eine akustische Eigenart, die ähnlich markant ist wie die sichtbare Erscheinung. Identifiziert man, durch welche Laute eine spezielle Klanglandschaft geprägt wird, kann man auch Auskunft erhalten über die zentralen Werte einer Gesellschaft, ihrer Prioritäten, Machtstrukturen und ihren ökologischen Zustand. Der oder die Hörende muss in diesem „System Soundscape“ neu konzipiert werden. Nämlich nicht mehr als passiv und frontal Entgegennehmende/r, sondern als ein lebendiges Element, das zur Soundscape beiträgt und diese beeinflusst. Eine Soundscape wahrzunehmen bedeutet also an ihr teilzunehmen. Man ist immer mittendrin.

Soundscape Vancouver

Dieses Video in englischer Sprache präsentiert wichtige Persönlichkeiten der Soundscape-Bewegung: Die deutsch-kanadische Komponistin Hildegard Westerkamp, den kanadischen Soundforscher Barry Truax und den Soundscape-Designer Nigel Frayne (ehemals Präsident des World Forum for Acoustic Ecology WFAE). Das Video führt die Vielfalt und Faszination unterschiedlichster Soundscapes vor Augen und Ohren. Wenige kurze Äußerungen der ProtagonistInnen erhellen einzelne Aspekte zum Thema Soundscape: Hildegard Westerkamp spricht von der Soundscape als dem, was uns als akustisch Gegebenes alltäglich umgibt. Barry Truax weist darauf hin, dass die Beschaffenheit einzelner Soundscapes Indikatoren für deren jeweilige Lebensqualität und Kommunikation darstellen. Nigel Frayne macht darauf aufmerksam, dass Lärm stets auch auf individuellen Bewertungen beruht. 

Elemente der Soundscape I

Wer eine Soundscape analysieren möchte, benötigt Wahrnehmungskategorien. Murray Schafer führte dafür einige wichtige Begriffe ein: etwa den Grundton (Keynote-Sound) und die Lautmarke (Soundmark).Ein Grundton bezeichnet einen permanent anwesenden Laut, der charakteristisch für einen Ort ist und dort den „Ton angibt“. Grundton kann etwa das Meeresrauschen sein, dass ein spezielles Strandhotel kennzeichnet; auch das Summen einer Autobahn, die man entfernt in einem Park vernimmt. Auch das charakteristische Brummen des Kühlschranks in der eigenen Wohnung wäre in diesem Sinne als Keynote zu betrachten.Grundtöne wirken in der Dauer. Sie erzeugen vor allem Atmosphäre. Eine Lautmarke ist hingegen eher etwas Momenthaftes. Das Wort leitet sich von Englisch landmark (Landmarke, Wahrzeichen) ab. Ein akustisches Wahrzeichen ist meist weniger leicht zu identifizieren als ein visuelles. Das Glockengeläut von Big Ben etwa gilt als akustisches Wahrzeichen, als Lautmarke also, von London. Die Pfeifen und Hörner der Züge in Kanada können als Lautmarke der weiten kanadischen Landschaft gelten. Das charakteristische Tür-Schließgeräusch von bestimmten Automarken zählt ebenfalls dazu. Was könnte die Lautmarke deiner Stadt oder deines Dorfes sein?Jedes Schallereignis, das spezifisch für einen Ort, Raum oder Gegenstand als einzelner, klar konturierter Laut hervortritt, lässt sich als Lautmarke bezeichnen.

Elemente der Soundscape II

Eine wichtige Unterscheidung nimmt Schafer zwischen sogenannten Hi-Fi- und Lo-Fi-Soundscapes vor. Während Hi-Fi in der Akustischen Ökologie die transparente Durchhörbarkeit einer akustischen Umgebung meint, in der von den Hörenden alle Laute klar gehört und räumlich verortet werden können, und auch entfernte, leisere Laute wahrnehmbar sind, versteht man unter Lo-Fi-Soundscape ein breitbandige „Geräuschwand“, welche den akustischen Horizont verengt.Meist werden Lo-Fi-Soundscapes als belastender und stressiger empfunden als Hi-Fi-Soundscapes. Lo-Fi ist eher – wenngleich nicht in jedem Fall - typisch für Städte. Das breitbandige Rauschen z.B. permanenter Autogeräusche, ratternder Klimaanlagen oder vibrierender Baumaschinen maskiert feine und ferne Klänge und macht sie unhörbar. Feine Laute, wie etwa das Atmen von Menschen, Geräusche in der Ferne wie die Schritte von Passanten auf der anderen Straßenseite, all das ist in Lo-Fi-Umgebungen nicht ohne weiteres zugänglich.Erfahrungen prägen Erwartungen: Was man nicht kennenlernt, kann man sich nicht vorstellen, entzieht sich dem Hörvermögen, wird unhörbar. Im Sinne der Akustischen Ökologie wären also mehr Hi-Fi-Umgebungen wünschenswert.

Soundscape als Hörkonzept

Schafer hat die Soundscape als Alternativ-Modell zu einer frontalen Hörhaltung konzipiert, wie sie etwa im Konzert und Theater, dem konventionellen Schulunterricht und dem Mono- und Stereohören bei der Radio- und Fernsehrezeption praktiziert wird.Die Soundscape als Rundumwahrnehmung umfasst alle Laute, auch diejenigen, die üblicherweise ignoriert und vom hörenden Bewusstsein ausgeblendet werden. Es wird dabei nicht selektiv unterschieden zwischen dem Signal, das im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, und dem Rauschen, das als unwichtig gilt und daher möglichst beseitigt werden muss. So wird die Welt der Laute als Umwelterfahrung im wahrsten Sinne des Wortes deutlich.Im kritischen Lauschen auf die Gesamtheit einer Soundscape, so Schafer, vermag die/der Hörende die Qualität der akustischen Umwelt vollständig zu erfassen und zu hinterfragen, auch in Hinblick auf Wohlbefinden und Gesundheit.Ein erlebter Mangel an Lebensqualität und sinnlicher Autonomie kann dazu motivieren, eine bestimmte Klanglandschaft gestaltend zu verändern, damit sie angenehmer klingt. Schafer fordert daher ein Akustik-Design: die aktive akustische Gestaltung von Alltag und Umwelt.

 Soundwalkers – ein Film von Raquel Castro über diverse Positionen der Wahrnehmung im Umgang mit der klingenden Umgebung. Es kommen u.a. zu Wort: Allen S. Weiss, Künstler und Autor, Professor an der TISCH School of the Arts New York; Sabine Breitsameter, Radiokünstlerin und Autorin, Professorin für Sound- und Medienkultur an der Universität Darmstadt; Peter Cusack, Künstler und Musiker, Mitbegründer des London College of Communication an der University of the Arts London. 

Soundwalkers

Dieser sorgfältig gestaltete Film der jungen portugiesischen Filmemacherin Raquel Castro ist nur auf Englisch verfügbar, aber er lohnt sich! Viele namhafte Soundscape-ExpertInnen kommen darin zu Wort. Worum es in diesem Video geht, fasst Raquel Castro folgendermaßen zusammen: 
„Es gibt einige wichtige Prinzipien, wie sich eine akustisch zuträglichere Gesellschaft gestalten lässt. Indem Respekt gegenüber der Stimme und den Worten gepflegt wird, gegenüber akustischer Sensibilität und der Aktivierung des Hörsinns. Indem Laute erhalten werden, die zu verschwinden drohen und gleichzeitig Offenheit geübt wird gegenüber den Geräuschen, die mit neuen Technologien einhergehen. Indem man sich auf die hörbaren Eigenarten der Phänomene besinnt und ihren spezifischen Zeichencharakter. Indem man Stille akzeptiert, ihr an geeigneter Stelle Geltung verschafft, und vor allem indem man aufmerksam hört.“
Es macht nichts, wenn Ihr vielleicht nicht jedes einzelne Wort versteht. Lasst Euch von der akustischen und visuellen Machart dieses Films inspirieren!

Das World Soundscape Project

Ende der 1960er Jahre gründete Schafer  an der Simon Fraser Universität bei Vancouver das World Soundscape Project (WSP). Sein Ziel: weltweit die akustischen Erscheinungen von Orten und Landschaften zu archivieren, zu analysieren und über Jahrzehnte hinweg ihre Veränderungen zu erfassen. Mitarbeiter am WSP waren u.a. die heute namhaften Soundscape-Komponisten Hildegard Westerkamp und Barry Truax.Anfang der 1970er Jahre begann das Team um Schafer auch die eigene Stadt, Vancouver an der kanadischen Westküste, zu untersuchen. Die damals aktuellen Laute Vancouvers wurden zunächst mit akustischen Beschreibungen in Büchern und Zeitungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts verglichen, aber auch mit künftigen Veränderungen, die sich für die städtische Soundscape der 1970er Jahre abzeichneten: Ausbau des Flughafens, Zunahme des Individualverkehrs, Abschaffung der charakteristischen Signalhörner im Schiffsverkehr, Gentrifizierung der City, zunehmend multikultureller Alltag usw. All dies, so wurde dem Forschungsteam um Schafer klar, würde die akustische Identität Vancouvers sehr bald und grundlegend verändern.Die  technisch hervorragenden Tonaufnahmen, die bei diesen Untersuchungen entstanden, stehen in einem Archiv der Simon-Fraser-Universität zur Verfügung. Sie sind oft von großer ästhetischer Eindringlichkeit. Auch deshalb wurden viele dieser Aufnahmen zum Ausgangspunkt für Soundscape-Kompositionen.

CD zum Hören: THE VANCOUVER SOUNDSCAPE 1973 & SOUNDSCAPE VANCOUVER 1996 (Doppel-CD), Cambridge Street Records/Vancouver 1997.

Vancouver Soundscapes

Ö1 Zeit-Ton 23.03.2011, Gestalterin: Susanna Niedermayr

Vancouver Soundscapes

Sabine Breitsameter

Sabine Breitsameter ist seit 2006 Professorin für Sound und Medienkultur am Fachbereich Media der Hochschule Darmstadt. Ihre Schwerpunkte sind elektroakustische Kunstformen, Hörkultur, audiomediale Produktionsästhetik, Medienökologie und Mediengeschichte. Zuvor war sie von 2004-2008 Gastprofessorin für Experimentelle Klanggestaltung an der Universität der Künste Berlin, wo sie den Master-Studiengang Sound Studies mitbegründete. Als Autorin, Regisseurin und Redakteurin war und ist sie v.a. für die Bereiche Hörspiel und Feature, Medienkunst, zeitgenössische Musik und aktuelle Kultur in der ARD tätig sowie für Deutschlandradio, dem US-amerikanischen NPR sowie Radio Canada. Als Wissenschaftliche und Künstlerische Leiterin kuratierte sie Symposien und Festivals wie u.a. Ganz Ohr. Symposium über das Zuhören (Kassel 1996, parallel zur Documenta), StadtStimmen (Landeshauptstadt Wiesbaden 1998), Trans Canada (ZKM Karlsruhe 2004), Radio_Copernicus. Das deutsch-polnische Künstlerradio (Berlin – Warschau – Wroclaw 2005), The Global Composition. Conference on Sound, Media and Ecology (Darmstadt 2012). 2010 erschien, von Breitsameter herausgegeben, übersetzt und eingeführt R. Murray Schafer „Die Ordnung der Klänge. Eine Kulturgeschichte des Hörens“ bei Schott-International.
Sabine Breitsameter